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The Human Genome Project und seine Folgen für Menschenbild und Ethik

Christoph Rehmann-Sutter, Universität Basel

Das Human Genome Project (HGP) eröffnet eine Vielzahl neuer biomedizinischer Möglichkeiten und verändert dabei das Verhältnis, das wir kulturell und gesellschaftlich zum Körper einrichten. Das ist Bestandteil des allgemeinen Bewusstseins und Gegenstand weit verbreiteter Sorgen.

Der menschliche Leib wird durch die Kenntnis des Genoms auf eine neuartige Weise erfahrbar und auch manipulierbar. Die Macht, die damit entsteht, kann zur Prognostik, Prävention und Therapie z.T. bisher unbehandelbarer Leiden genutzt werden. Die Medizin wird durch den molekularen Aspekt revolutioniert. Auch ein Bestandteil dieses allgemeinen Bewusstseins ist die Tatsache, dass das HGP gleichzeitig Missbrauchspotentiale und neue moralische Dilemmas schafft. Es sind nicht nur Hoffnungen, sondern auch Lasten mit der molekularen Medizin verbunden. Kommt es sogar zu Situationen, wo unsere Verantwortung überlastet wird? Reicht unsere Verantwortungskompetenz so weit wie unsere Manipulations- und Kontrollmacht reicht? Nicht nur der offensichtliche Missbrauch und seine Verhinderung, sondern auch der "normale" Gebrauch in der Medizin ist mit beunruhigenden ethischen Fragen verbunden, denen sich unsere Gesellschaft stellen muss.
Als Beispiel sei die Entwicklung und Anwendung von Gentests genannt, seien sie prä- oder postnatal, geschehe es in Form organisierter Screenings, im Zusammenhang mit klinischer Forschung, im Kontext der Pharmakogenetik oder der genetischen Epidemiologie oder bloss im individuellen, privaten Gebrauch, innerhalb von Familienbeziehungen. Alle Anwendungen stellen einzigartige und neuartige Fragen. Eine davon: Wieviel Wissen über Gesundheitsrisiken ist der Gesundheit und Lebensqualität noch förderlich und wann beginnt quasi der Grenznutzen, wann wird die scheinbare Krankheitsprävention selbst zu einer so grossen Belastung oder gar zu einer gesellschaftlich organisierten Manie, dass es den Betroffenen nicht mehr gut tut, obwohl es vielleicht quantitativ die Lebenserwartung steigert? Droht uns mit der Genomanalyse eine Art Präventionsfalle?

Das HGP hat spezifische Folgen in allen Sparten der Medizin und weit über die Medizin hinaus, die heute erst zu einem kleinen Teil absehbar sind. Eine unmittelbare forschungspolitische Folgerung ist meiner Ansicht nach, dass wir (die Gesellschaft) zum eigenen Vorteil Anstrengungen unternehmen sollten, um diese Folgen prospektiv zu untersuchen und zu diskutieren, bevor sie wegen blosser Macht der Fakten dann dereinst unlösbar gemacht worden sind. Das HGP verlangt eine begleitende Erforschung der ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Implikationen, sog. ELSI-Begleitforschung. In der Schweiz wurde sie bisher noch nicht systematisch etabliert, im Gegensatz zu anderen Ländern, wie Deutschland oder die USA.

Ich möchte einen Gedanken zur Diskussion stellen, der mit den beiden Begriffen im Titel "Menschenbild" und "Ethik", und mit ihrem Zusammenhang unmittelbar zu tun hat. Ethik und Menschenbild sind nicht getrennte Bereiche: Denn wir verstehen ethische Probleme im Zusammenhang von und mit Hilfe von Vorstellungen unserer eigenen Identität, unseres Wesens, unseres Schicksals, unserer Ziele, unserer Hoffnungen. Diese sind vom HGP wesentlich betroffen.

Ich sehe in der Genetik eine kollektive Unternehmung zur Neubeschreibung des Menschen und von Leben allgemein. Diese Vorstellungen unserer eigenen Identität, unseres Wesens, unseres Schicksals, unserer Ziele, unserer Hoffnungen werden durch die Vermutung einer inneren Determinierung durch Gene verändert. Erst recht durch die Wissbarkeit genetischer Information. Beziehungen werden neu konfiguriert: Nicht nur Beziehungen zu anderen Menschen, deren genetische Anlagen ich möglicherweise wissen kann. Indem ich selbst meine eigenen genetischen Eigenschaften erfahren kann (zumindest kleine Bruchstücke), wird unterhalb der spürbaren Oberfläche und sinnlichen Erfahrbarkeit des eigenen Leibes eine Ebene von Bestimmungsfaktoren vermutet, die uns verborgen sind, sich nur mittels technischer Massnahmen - den Gentests - erfahren lassen. Der Leib ist das Stück Natur, das wir selbst sind (Gernot Böhme). Insofern ist mit der Umstimmung des Leibverhältnisses immer auch eine Umstimmung des Naturverhältnisses verbunden. Identität ist aber etwas, was sich in solchen Beziehungen ergibt. Unsere Identität, also das, was wir von uns selbst glauben, wer wir sind, ist ein Ergebnis der Auslegung von Abgrenzungen, unter anderem gegenüber der Natur, die wir selbst nicht sind. Das "Menschenbild" oder unsere Identität als "Menschen" entsteht dabei aber kommunikativ, in Beziehungen zu anderen. Die Formung dieses Beziehungsbegriffes ist eine kollektive menschliche Aktivität, für deren Sorgfalt wir ethische Verantwortung tragen.

Ein zentrales Element in diesem identitätsstiftenden Auslegungsverhältnis ist das folgende: Wir begegnen dem Unbekannten immer mit gewissen Vorverständnissen. Wir integrieren es in unser Weltverständnis. Für Unbekanntes müssen wir Interpretationsmuster finden. Gene, die DNA, sind zunächst Unbekanntes. Sie traten hinein in Diskurse, die sich bereits um das Wesen des Menschen auseinandersetzten. Die Figur war bereits entstanden, dass es ein inneres Wesen gebe, das die Dinge, auch die Menschen von innen heraus organisiere und sie zu dem mache, was sie sind. Was lag näher als zu vermuten, die DNA gehöre zu diesen inneren wesensstiftenden Faktoren? Was früher Seele hiess, wird heute oft mit DNA identifiziert. Anders könnte man gar nicht vermuten, dass ein Klon eine Vervielfachung derselben Persönlichkeit ist. Wir wissen aber, dass diese Vermutung falsch ist. Die DNA erfüllt diese essenzialistischen Erwartungen nicht.

Für mich ein erstaunlicher Vorgang dieses Jahres ist die Offenlegung der menschlichen Genomsequenz. 3 Milliarden Basenpaare bilden bloss gerade 30-40'000 Gene (gezählt nach Promotersequenzen). Weitestgehend unverstanden ist, wie es möglich ist, dass sich ein so hochkomplexes und sensitives Entwicklungssystem Mensch mit nur so wenigen molekularen Bestimmungsfaktoren überhaupt erfolgreich differenzieren und entwickeln kann. Gleichzeitig sind die Zeitungen um diese Zeit voll gewesen mit verständlichen Erklärungen und Kommentaren. Das Unerklärliche können wir also doch irgendwie verstehen. Wir interpretieren es und bauen es ein in unsere Welt- und Menschenbilder. Interpretation schleicht sich sogar dort ein, wo auf das fehlende Verständnis hingewiesen wird. Das Titelblatt zum Zeit dokument Nr. 1, 2001 "Das menschliche Genom" enthält z.B. den folgenden Satz:
"Der Text ist da, jetzt müssen die Forscher ihn lesen lernen."
Lesen lernen heisst molekularbiologisch natürlich: Funktionen erforschen. Welche Proteine werden wie von welchen DNA-Abschnitten codiert, wie funktionieren diese Proteine, wie werden sie und ihre Synthese reguliert etc.? Mit dem Wort "Text" ist aber ein ganzes Feld von Konzepten gesetzt: nämlich eine ganze Theorie des Genoms! Gene seien etwas wie eine verstehbare Schrift. Eine Art Vorschrift in unseren Körpern dafür, wie unsere Körper sich selbst machen können. Die Zellen seien mit Leseapparaturen ausgestattet und befolgen gleichzeitig, gerade indem sie sich ablesend betätigen, die Vorschriften, die in ihnen vorliegen. Die Idee der Gene als Elemente eines "genetischen Programms" ist eine sehr verbreitete und sehr potente Plausibilisierungsmethode der Genetik. Aber sie ist Interpretation, kein Faktum der Naturwissenschaft. Naturwissenschaftlich gesehen, ist sie angesichts des heutigen Wissensstandes sogar äusserst fragwürdig.
Für Betroffene hat diese Plausibilisierung des Wesens der Gene oft direkte Konsequenzen. Wenn PatientInnen eine an ihnen festgestellte Mutation eines Tumorgens für eine Art gespannte Feder halten, die in ihrem Körper verborgen ist, und zu Krebs führen wird, sobald sie losgeht. Oder wenn eine Patientin mit einer Mutation im BRCA1 Gen in ihrem eigenen Körper eine Art tickende Zeitbombe spürt. Beide Male wird das Gen für einen Bestimmungsfaktor in der Art eines körperhaften Befehls gehalten, das in der Zukunft eine Eigenschaft des Körpers bestimmen wird.

Eine Konsequenz daraus ist: was genetische Information ist, was sie für Betroffene bedeutet, ist nicht klar verständlich, ohne die Kontexte der Interpretation mitzuberücksichtigen. In die Entscheidungen fliesst nicht pures Faktenmaterial über die DNA ein, sondern interpretierte Information. Genetische Informationen, die so entstehen und entscheidungsrelevant werden, verändern das Leben, schaffen für alltägliche Lebensentscheidungen neue Voraussetzungen. Entscheidungen, die vorher keine "genetischen" waren, werden jetzt zu "genetischen Entscheidungen". Zum Beispiel ein Kind zu bekommen, wird zu einer Entscheidung mit einer genetischen Komponente. Gute Beziehungen zu den Familienmitgliedern unterhalten, schliesst nun in der Wahrnehmung von Betroffenen unter Umständen ein, ihnen gewisse genetische Informationen weiterzusagen, die sie brauchen können. Das können aber bad news sein - Informationen über ihnen drohende Krankheiten.

Thesen:
1) HPG und die neuen Testmöglichkeiten fügen wichtigen Entscheidungen über die Lebensgestaltung eine explizit genetische Komponente hinzu.
2) Dies transformiert die familiären und sozialen Beziehungen und die "Körperkonzepte".
3) Wie diese Transformationen konkret aussehen, hängt nicht nur von den verfügbaren Daten ab, sondern wesentlich von den Mustern, mit denen sie gesellschaftlich-kulturell interpretiert werden.

Das genetische Programm als nach wie vor vorherrschendes Muster hat folgende Implikationen: Der Körper wird wahrgenommen als heteronome Struktur, unter der Kontrolle eines genetischen Programms. Unsere Daseinsweise ist ein Ausführen von codiert mitgeführten Instruktionen und das Produziertsein durch die Befolgung dieser Instruktionen.

Ein kontextuelles, "systemisches" Genverständnis, das heute angesichts der molekularbiologischen Faktenlage eigentlich näher liegen würde, hätte andere Implikationen. Der Körper ist eine aktiv selbstorganisierende Struktur, die der DNA in jedem einzelnen Entwicklungsschritt die Informationqualität selektiv verleiht. Dasein ist dann ein Sich-selbst-finden in Beziehungen zur Umwelt und ein gegenwärtiger Gestaltungsprozess, dessen Regelmässigkeit genauso aktuell hervorgebracht ist, wie die Abweichungen von der Regel.
Als Konsequenz möchte ich formulieren: In der Neukartierung des Menschen, die durch das HGP ausgelöst wird, öffnen sich auch neue Räume. Die Richtung, in der das Menschenbild und die Ethik durch die Genetik verändert werden, ist nicht festgelegt. Die Auslegung der Genomik jenseits der Meta-Erzählung "Text" und "genetisches Programm" steht heute aber erst am Anfang.


© Copyright Agency BATS: Contact Legal Advisor: Advokatur Prudentia-Law Date of publishing: 2001-09-14

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