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Ethische Perspektiven der Gewinnung von embryonalen Stammzellen

 Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Heinemann

Die Etablierung menschlicher embryonaler Stammzellen sowie neue Erkenntnisse über gewebsspezifische Stammzellen im menschlichen Körper haben den naturwissenschaftlichen Grundlagenwissenschaften und der Medizin Forschungsmöglichkeiten eröffnet, die ein erhebliches Erkenntnis- und Anwendungspotential besitzen. Die Stammzelltechnologie wirft jedoch auch gewichtige ethische Fragen und Probleme auf. Denn es ist zu klären, inwieweit die Ziele und Zwecke, für die diese Techniken eingesetzt werden sollen, als legitim zu betrachten und inwieweit die als Mittel zum Erreichen dieser Ziele einzusetzenden Techniken hinsichtlich ihrer Folgen und Nebenfolgen als vertretbar zu beurteilen sind. Zu fragen ist, welche Kriterien die Legitimität von Zielen und die Vertretbarkeit von anzuwendenden Mitteln begründen. Die Zielsetzung einer Keimbahnintervention und die Erzeugung eines geborenen Menschen mit Hilfe der Stammzelltechnologie wird derzeit weltweit als illegitim betrachtet, was sich - sofern überhaupt Gegenstand einer Regelung - international in Verboten oder zumindest Moratorien hinsichtlich des Klonierens mit reproduktiver Zielsetzung äussert. Hingegen stellt die Entwicklung transplantierbaren Gewebes aus Stammzellen des Menschen im Hinblick auf die Dignität der verfolgten humantherapeutischen Zielsetzung nicht nur ein legitimes, sondern ein hochrangiges und wünschenswertes Ziel dar. In diesem Fall bricht die ethische Problematik nicht im Hinblick auf die Legitimität der Ziele, sondern insbesondere hinsichtlich der Vertretbarkeit der Mittel auf. Die Frage nach den Mitteln verweist auf den ethischen (und rechtlichen) Status, d.h. auf den Schutzanspruch, der den zur Gewinnung von kultivierten Stammzellen verwendeten Zellen sowie den in Kultur vermehrten Stammzellen selbst zukommt.

Bei der Beurteilung der Gewinnung von menschlichen Stammzellen sind die verschiedenen Verfahren ihrer Generierung zu unterscheiden: aus gewebsspezifischen (sogenannten "adulten"), dem erwachsenen Organismus entnommenen Zellen, aus primordialen Keimzellen abgestorbener Föten, oder aus Embryoblastzellen menschlicher Embryonen, die entweder im Rahmen einer IVF-Behandlung oder eigens zu Forschungszwecken oder durch Zellkerntransplantation erzeugt wurden. Wichtige Argumente im Hinblick auf die Statusbeurteilung dieser Zellen beziehen sich auf ihr jeweiliges biologisches Entwicklungs- und Differenzierungspotential, insbesondere auf das Potential der Totipotenz, das den Status des menschlichen Embryos wesentlich begründet. Diesbezüglich scheint die Gewinnung gewebsspezifischer Stammzellen unter ethischer Perspektive unproblematisch zu sein. Auch die Entnahme primordialer Keimzellen aus menschlichen Föten nach Abort impliziert nicht die Instrumentalisierung eines menschlichen Embryos, wenngleich sich bei diesem Verfahren gewichtige andere ethische Probleme (z.B. Forschung bzw. Therapiemöglichkeit als Rechtfertigungsgrund für den Schwangerschaftsabbruch, Instrumentalisierung der Frau, Todeskriterium beim Föten, u.a.) auftun. Bei der Verwendung menschlicher Embryonen zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen stellt sich die Frage, ob eine Nutzung von im Rahmen einer IVF-Behandlung erzeugter, dem Tode geweihter Embryonen zu besonders hochrangigen Zielen im Ausnahmefall erlaubt sein kann. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob es erlaubt sein kann, menschliche Embryonen eigens zu Forschungszwecken entweder durch IVF oder durch Kerntransfer herzustellen.

Aber auch der Status der in Kultur vermehrten Stammzellen ist in ethischer Hinsicht zu beurteilen. Das Differenzierungs- und Entwicklungspotential menschlicher embryonaler Stammzellen kann derzeit in Ermangelung sicherer biologischer Differenzierungsmarker nur in Annäherung festgelegt werden. Der experimentell erfolgte Nachweis der Pluripotenz menschlicher embryonaler Stammzellen schliesst eine mögliche Totipotenz dieser Zellen keineswegs aus. Insbesondere erweist es sich als Problem, dass der Nachweis von Totipotenz einzelner menschlicher embryonaler Stammzellen oder eines Stammzellverbandes definitionsgemäss gegenwärtig nur durch die Erzeugung eines menschlichen Lebewesens aus diesen Zellen geführt werden kann, was sich aus ethischen Gründen verbietet. Auf ein über ein Entwicklungspotential der Pluripotenz hinausreichendes Potential könnte die Fähigkeit von embryonalen Stammzellen nichthumaner Primaten (Weissbüscheläffchen) hinweisen, sich unter bestimmten Kulturbedingungen spontan zu hochorganisierten Strukturen zu entwickeln, die regelrechten Embryonen in allen Belangen sehr ähneln (embryoid bodies). Wenngleich eine ethische Beurteilung unter bestimmten Annahmen Prinzipien für den Umgang mit menschlichen embryonalen Stammzellen formulieren kann, ist eine konkrete Handlungsanweisung auf eine möglichst genaue naturwissenschaftliche Beschreibung des Entwicklungspotentials dieser Zellen angewiesen, die derzeit aussteht.

Auf dem Hintergrund der genannten ethischen Problematik bei der Gewinnung und der Verwendung von embryonalen Stammzellen sind mögliche Alternativen zu prüfen. Eine sich abzeichnende Alternative könnte in der Gewinnung von gewebsspezifischen Stammzellen und der Entwicklung von Reprogrammierungstechniken bestehen, die ohne Instrumentalisierung eines menschlichen Embryos das Erreichen des gewünschten therapeutischen Ziels erlauben.


© Copyright Agency BATS: Contact Legal Advisor: Advokatur Prudentia-Law Date of publishing: 2000-09-15

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