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Das menschliche Genom ist entziffert - jetzt müssen wir Lesen lernen
Gespräch mit Prof. Walter Gehring, Ordinarius für Entwicklungsphysiologie
und Genetik in der Abteilung Zellbiologie am Biozentrum der Universität
Basel.
Bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms gab es ein Kopf-an-Kopf-Rennen
des amerikanischen Unternehmens Celera und den Mitgliedern des Human Genom
Projects. Belebt Konkurrenz den Forschungsalltag oder leidet die Forschung
an öffentlichen Institutionen dadurch?
Ich finde Konkurrenz im Allgemeinen gut. Dass zwei Parteien an der Entschlüsselung
gearbeitet haben, hat meiner Ansicht nach keinem geschadet. Jetzt kann
man Ergebnisse vergleichen und hat vielleicht unterm Strich ein besseres
Ergebnis. Man muss jedoch eines sehen: Die Industrie ist in der Regel
nur in solchen Projekten erfolgreich, die man generalstabsmässig
durchführen kann. Das war beim Human Genom Project genauso der Fall
wie beispielsweise bei der Mondlandung. Wenn Sie das Antriebsproblem der
Rakete gelöst haben, dann können Sie ein Mondprogramm starten
und wenn Sie das Prinzip der DNA-Sequenzierung im Griff haben, können
Sie generalstabsmässig die Entzifferung des menschlichen Genoms planen.
Für die Fragen, die auf die Entschlüsselung folgen, die Inter-pretation
der Daten und die Frage, wie die Gene miteinander verschaltet sind, ist
die Forschungs-erfahrung der öffentlichen Forschungseinrichtungen
jedoch unersetzlich. In diesem Bereich kann sich die Industrie sicher
nicht mit der Hochschule messen.
Heisst das, jetzt wird es erst richtig spannend?
Die Frage, um die sich alles dreht, ist jetzt doch: Was bedeuten die
ganzen Buchstaben? Wir müssen nun "Lesen lernen" und das
ist ein langer Weg. Wir können das menschliche Genom jetzt zwar buchstabieren,
aber den Sinn der Buchstaben können wir noch lange nicht erfassen.
Da sind wir noch unter dem Niveau eines Erstklässlers, eher noch
auf der Stufe eines Kindergartenkindes.
Die Zusammenarbeit von Industrie und Hochschule hat, wie man auch an
der Universität Basel sieht, auch Vorteile für die öffentliche
Forschung, oder?
Es stimmt, dass Projekte wie die Entschlüsselung des menschlichen
Genoms viel Geld kosten, das eine Hochschule vielleicht nicht hat. So
gesehen, ist es gut, wenn die Industrie sich beteiligt. In der Schweiz
hatten wir meiner Ansicht nach bisher eine gute Aufgabenteilung: Die Grundlagenforschung
war Schwerpunkt an den Hochschulen und die angewandte Forschung wurde
in der Industrie vorangetrieben oder von der Industrie an der Hochschule
gefördert. In der Schweiz gehen Industrie und öffentliche Forschung
Hand in Hand und das hat sich bewährt.
Wer viel arbeitet, macht auch viel Fehler', heisst es. Gilt das auch
für solche Forschungswettläufe?
Speziell bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms hat die
Konkurrenz leider dazu geführt, dass teilweise viel zu schnell gearbeitet
wurde und sich so viele Fehler eingeschlichen haben. Die Annotation der
Gene ist nicht so korrekt, wie es wünschenswert wäre. Diese
Fehler herauszufinden kostet viel Zeit. Trotzdem: Ich glaube, dass wir
ohne diese Konkurrenzsituation jetzt noch nicht das menschliche Genom
sequenziert hätten. Und das ist natürlich positiv.
Sie arbeiten seit über 30 Jahren in der Grundlagenforschung. Ihre
Forschungstätigkeit unterteilen Sie in die Zeit "before cloning"
(b.c.) und after cloning" (a.c.). War die Möglichkeit zu Klonen
von heute aus betrachtet der entscheidendeste Beitrag, um zu neuen Erkenntnissen
in der Genetik und Entwicklungsbiologie zu gelangen?
Ich bin überzeugt, dass die Möglichkeit Gene zu klonieren,
der Quantensprung in der biologischen Forschung der letzten Jahrzehnte
war. Mein Lehrer und Mentor Ernst Hadorn hatte schon in den sechziger
Jahren die Meinung vertreten, dass alle Entwicklungsprozesse durch Gene
gesteuert werden. Als ich 1965 mein Studium abgeschlossen habe, glaubten
das durchaus nicht alle Entwicklungs-biologen. Die Bedeutung der Gene
wurde zu dieser Zeit dramatisch unterschätzt. Es war anerkannt, dass
ein Merkmal wie zum Beispiel die Augenfarbe von Genen festgelegt wird,
aber nicht, dass ein Gen die ganze Entwicklung eines Organs steuert.
Früher hatte man für viele molekularbiologisch interessante
Experimente, welche Licht in die Funktion der Gene bringen sollten, schlicht
und einfach zu wenig Material. Und auf einmal war es Anfang der siebziger
Jahre möglich Gene zu klonieren. Gleichzeitig wurden die analytischen
Methoden in der Biochemie immer sensibler. So eröffneten sich unglaubliche
Möglichkeiten.
An einer internationalen Konferenz im kalifornischen Asilomar über
rekombinante DNA im Jahr 1975 diskutierten die Wissenschaftler erstmals
darüber, ob es sinnvoll ist, sich selbst ein Forschungsmoratorium
aufzuerlegen. Wie kam es zu diesen selbstauferlegten Restriktionen?
Die Bedenken kamen auf, weil damals viel mit rekombinanten Viren gearbeitet
wurde. Gegen Erkrankungen durch Viren vorzugehen, war damals wie heute
schwierig. Man hatte Angst, dass sich irgendein unvorhersehbarer Vorfall
mit den Viren ereignen könnte. Daraufhin wurde von den Wissenschaftlern
selbst Richtlinien für gentechnologische Arbeiten und für die
Entwicklung von sicheren Vektoren und Bakterienstämmen aufgestellt,
die dann in verschiedenen Ländern in Kraft gesetzt wurden.
Halten Sie solche selbstauferlegten Restriktionen, die von den Wissenschaftlern
ausgehen, auch heute noch für sinnvoll und angemessen?
Es war gut, dass man damals über die Gefahren diskutiert und Konsequenzen
gezogen hat. Aus heutiger Sicht waren die meisten der Vorsichtsmassnahmen
nicht nötig. Dennoch halte ich es auch heute noch für unerlässlich,
Vorsichtsmassnahmen zu treffen, wenn man Neuland betritt.
Sie haben mit Ihren Forschungsarbeiten gezeigt, wie Kontrollgene die
Entwicklung und Evolution beeinflussen können. Die sogenannte Homeobox,
die sie bei der Taufliege Drosophila entdeckt haben, konnten sie bei vielen
anderen Organismen in ähnlicher Form nachweisen. Ist das nicht ernüchternd,
zu entdecken, wie ähnlich sich Fliegen, Hefe und letztlich auch Menschen
sind?
Nein, gar nicht. Es hat mich vielmehr begeistert, denn es zeigt, dass
wir im "gleichen Boot sitzen". So erstaunlich ist es wiederum
auch nicht, da die Homeobox Steuerungselemente enthält, die Gene
steuern. Dass diese sowohl Vorgänge beim Menschen als auch bei der
Fliege steuern, fand ich eher naheliegend als abwegig.
Als bekannt wurde, dass der Mensch nicht wie angenommen 100.000, sondern
nur etwa 30.000 Gene hat, war das für viele ein regelrechter "Schock".
Können Sie das nachvollziehen?
Ich muss gestehen, als ich erfahren habe, dass der Wurm C. elegans wesentlich
mehr Gene besitzt als meine heissgeliebte Taufliege Drosophila, war ich
zuerst auch ein bisschen "beleidigt". Der Wurm kann nicht einmal
fliegen, ist blind und lebt im Boden. Aber das war natürlich eine
rein emotionale Reaktion. Es ist letztlich umso bemerkenswerter, dass
diese kleine Fliege mit wesentlich weniger Genen einen komplexeren Organismus
als C. elegans hervorbringt. Hier zeigt sich, dass die Anzahl der Gene
nicht aussagekräftig ist, wenn es um den Entwicklungsstand eines
Organismus' geht. So gesehen hat es wirklich keine Bedeutung, wie viel
Gene der Mensch nun genau hat.
Bilder von Ihren Experimenten, die Fliegen mit Beinen statt Antennen
am Kopf oder mit zusätzlichen Augen auf den Flügeln zeigten,
haben viele Menschen in der Öffentlichkeit eher erschreckt als fasziniert.
Mit welcher Rechtfertigung haben Sie in die Entwicklung eines Lebewesens
- und sei es hier eine Fliege - eingegriffen?
Die Frage ist immer: 'Was hat dieses Experiment für einen Sinn?'
Wir hatten zu Beginn unserer Versuche eine Hypothese. Wir gingen davon
aus, dass bei der Augenentwicklung ein einzelnes Gen eine ganze Kaskade
von Genen beeinflusst. Um das zu beweisen, mussten wir dieses einzelne
Gen in einem anderen Körperteil der Fliege exprimieren. Schliesslich
konnten wir zeigen, dass tatsächlich etwa 2000 Gene von einem einzelnen
Gen angeschaltet werden.
Sind die Forschungsergebnisse an der Fliege auf den Menschen übertragbar?
Die Taufliege Drosophila eignet sich erfreulicherweise sehr gut als Modell
für den Menschen. Es ist nachgewiesen, dass das Gen, das die Augenentwicklung
bei der Fliege steuert, dem beim Menschen sehr ähnlich ist. Natürlich
kann man Experimente, wie wir sie bei Drosophila gemacht haben, nicht
am Menschen durchführen. Daher ist es nützlich, dass die Ergebnisse
der Fliegenexperimente auch einen erheblichen Erkenntnisgewinn für
die Vorgänge bei der Augenentwicklung des Menschen bringen.
Doch das ist nicht alles. Ich habe mich mit Spezialisten für Augenheilkunde,
den Ophthalmologen, intensiv auseinandergesetzt und nun arbeiten wir gemeinsam
an einem neuen Forschungsprojekt. Ich möchte versuchen, die Erkenntnisse,
die wir bei der Fliege gewonnen haben, auf eine weitverbreitete Erkrankung,
die Retina-Degeneration beim Menschen, anzuwenden. Ueber 50 Prozent aller
alten Menschen leiden darunter. Dass diese Krankheit - mit Unterstützung
unsere Forschungsergebnisse - eines Tages erfolgreich behandelt werden
kann, das ist mein Traum.
Interview: Dr. Marion Morgner, Fachstelle BATS, Basel
Beitrag anlässlich des Basler Forums Technik & Gesellschaft
am 14.9.2001 zu dem Thema "Das menschliche Genom ist entschlüsselt
- Was nun?" im Pharmazentrum der Universität Basel.
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